STEPHAN THIEL

SAGT LILA

nach dem Roman von Chimo

 

mit JOHANNA GEISSLER UND MATTHIAS ROTT

Bühne HALINA KRATOCHWIL

Produktion CHRISTIANE HERCHER

 

Premiere 13. OKTOBER 2006

Societaetstheater Dresden

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Zitty

Ghettotheater

Eigentlich sind sie verlorene Kinder. Lila heißt sie und ist lebenshungrig, voller Fantasien, sie will heraus aus der Tristesse der anonymen Vorstadt. Er, Chimo, ist Araber, sein Leben eintönig und grau. Um zu überleben, macht er Raubzüge. Sie verlieben sich, oder was man in ihrer Pariser Straße so Liebe nennt. Dauernd macht sie ihm obszöne sexuelle Avancen, dabei suchen beide nur Nähe, um ihre ausweglose Situation ertragen zu können. Am Ende dann folge­richtig die Katastrophe. Der Autor des Romans Lila dit ca, der Textgrundlage der Inszenie­rung, blieb bis heute anonym. Das Manuskript bestand aus zwei roten Schulheften, die man in jedem Supermarkt kaufen könnte. In seinem Text aus dem Jahre 1996 schildert der Autor seine ganz realen Erfahrungen aus den Pariser Banlieues, aus den sozialen Krisengebieten der Stadt. Wohin der kollektive Frust geführt hat, konnte man im letzten Jahr sehen, als die Vorstädte brannten. Regisseur Stephan Thiel entwickelt Kurzszenen, die die Situation des Paares nur schlaglichtartig andeu­ten, eine Dramaturgie, die an die Stücke Bernard-Marie Koltös' erinnert. Die präsenten Darsteller (Johanna Geißler, Matthias Rott), so die Qualität der Arbeit, wirken wie Gehetzte, nie kommen sie tatsächlich zusammen. Stark, wenn Chimo mit den Stellwänden kämpft, die die Trabantenstadt symbolisieren. „Willkommen in Paris", sagt er. Diese Inszenierung zeigt: Paris ist überall.

 

Dresdner Neueste Nachrichten

Stadt, Name, Land - Beton

TheaterschaffT-Premiere: "Sagt Lila" im Societaetstheater Dresden

In diesem Pariser Vorort ist alles Beton, grau, starr und schmutzig sind die
Häuser, die Zukunft und die Sprache dreckiges Rudiment dessen, was sie
anderswo vielleicht ist. Aber das Anderswo ist weit weg, hat nichts mit dem
Ghetto zu tun, in dem Chimo lebt und in dem er, der 19-jährige Araber
zweiter Generation, auf die drei Jahre jüngere Lila trifft. Hier, wo die
Chancen auf ein anderes Leben - auf irgendeines, nur nicht dieses - schon so
lange fehlen, dass es auch keine Träume mehr gibt, wie Lila einmal
feststellt, sticht dieses Mädchen heraus, ist es ganz Kontrast. Lila ist
engelsgesichtig und spricht über ihren Körper und ihre sexuellen Erfahrungen
in einer seltsamen pornographischen Weise, ordinär, vulgär, doch mit
manchmal fast zärtlicher Natürlichkeit. Von Johanna Geißler wird das in ein
frappierend überzeugendes Wechselspiel von Robustheit und Verletzbarkeit
gehüllt. Ihrer Figur nimmt man ab, dass sie die Mechanismen der Tristesse
erkannt hat und auf ihre eigene Art damit umgeht. Chimo, der sich zu Lila
hingezogen fühlt, ist nur scheinbar angepasst an dieses Dasein, das mit
Geldbeschaffung, mit Zeittotschlagen dahingeht, in dem Coolness oder das,
was man dafür hält, an die Stelle von Lebendigkeit gerät. Matthias Rott gibt
seiner Figur fein unterschwellig eine tiefe existentielle Traurigkeit mit,
die in hilflosen Momenten rau verzweifelt ausbricht, und bindet Chimos
Reflexionen sehr glaubwürdig ein.

Die Szene, von der aus das Geschehen kippt, in der Lila vom Beischlaf des Teufels spricht, hat Thiel märchenhaft angelegt. Einen beinah geschützten Raum geben die großen,
beweglichen weißen Tafeln an, die im übrigen (mittels Projektion) die
verfallenen Häuserfluchten des Vorortes bilden. Und märchengleich berichtet
Lila von diesem Kontakt, wodurch ihre vorangegangenen Erzählungen sich ins
Gegenteil verkehren, Lila rein und unberührt erscheint - absurd und
gefährlich an diesem Ort. Geißler und Rott laufen hier zu Hochform auf,
zelebrieren auch die Vorschau auf ein Glück, das schließlich zerstört wird,
bevor es richtig anfangen konnte.

Wenn Chimo und Lila in einer anderen Szene traumgleich miteinander tanzen
und dazu ein französisches Chanson erklingt, dessen traurig-verzweifelter
Ton auch kultivierter Gestus ist, dann wird spürbar, wie sehr in einem Land,
das als Kulturnation erster Güte gilt, diese Siedlungen furchtbarer Ort der
Trostlosigkeit sind. Dabei gelingt es der Inszenierung gleichsam nebenbei
über den konkreten Ort hinauszuweisen und aufzuzeigen, dass das Fehlen von
Hoffnung und Chance so menschenunwürdig ist, dass alles wie zu Beton
erstarrt, auch Geist und Seele, austauschbar die Namen sind.