KASPAR HÄUSER MEER

von Felicia Zeller

mit: TILLA KRATOCHWIL, NADJA PETRI, GABRIELE VÖLSCH

Bühne: WOLFGANG MENARDI

Produktion: CHRISTIANE HERCHER

Musik: Markus Hübner

Premiere am 27. NOVEMBER 2008 im Theater unterm Dach Berlin

Auf die innere Parkbank

Neues Deutschland

Natürlich werden auch Klischees bedient. Meine Güte, wer könnte widerstehen, wenn es um eine Behörde geht. Felicia Zeller treibt es in ihrem Stück »Kaspar Häuser Meer« ins Groteske. Die intensive Beschäftigung mit dem Thema Jugendamt und vernachlässigte Kinder erlaubte ihr bei allem Ernst der Sache den Sprung auf diese Ebene. Die drei Mitarbeiterinnen Barbara, Anika und Silvia bemüht der Staat in ihrem Stück, sich der sozialen Fürsorge anzunehmen. Björn, der vierte, ist gerade ausgestiegen. Er konnte nicht mehr. Ausgebrannt sind sie allesamt. Ihn hat es als ersten umgehauen – »Björn Out«.

Der Bühnenbüroraum im Theater unterm Dach hat Fadenstore-Wände. Die raffinierte Kulisse von Wolfgang Menardi öffnet sich für Türen oder ist Aktenwand, wo abgelegt wird, was man ohnehin nicht schafft. Scheitern bringt Ersatzhandlungen. Die Frauen stapeln ihre Akten hin und her. Jede ringt mit sich, weil sie helfen will. Dabei sind die drei längst selbst Opfer. Eigentlich arbeiten sie in einem Amt, weil sie selbst Sicherheit brauchen. Angeschmiert haben sie sich, kommen nicht mehr klar. Überholen, ohne einzuholen – das könnte vielleicht klappen. Aber sie haben ja keinen Boden mehr unter den Füßen. Wie bricht man eine Arbeit über Elend ab, das kein Ende nimmt? Geht nicht. Die eine schreibt ihre Berichte nachts zu Hause und misshandelt schon ihr Kind. Die andere – von Albträumen geplagt und vom Alkohol abhängig – schlägt im falschen Moment Alarm. Die dritte hilft nach ihrem Muster weiter, obwohl dort Selbsthilfe längst eingesetzt hat.

Reden können die drei Frauen auch nicht mehr miteinander.

Außer bei ihrem vortrefflich inszenierten gemeinsamen Klagegesang »Oh« zeigt Regisseur Stephan Thiel die Schauspielerinnen Tilla Kratochwil, Nadja Petri und Gabriele Völsch bei ihrem 90-minütigen Kräfte raubenden, engagierten Spiel in sich gefangen. Einig sind sich die Amtsmitarbeiterinnen lediglich, wenn es um den Chef Schneckemüller geht oder den Aktivbürger Scheibenmüller. So ein »passionierter Stamm-Melder« ist das. Schwärzt Leute telefonisch beim Jugendamt an und ist nie zu Hause anzutreffen. So kommt alles vor, was so vorkommt. Auch die psychologische Betreuung der Damen, die sie stählen soll. »Setz dich mal auf deine innere Parkbank« hört man da. Auch: »Wir setzen jetzt mal das Problem auf diesen Stuhl und betrachten es von außen.«

Es ist lächerlich. Und das soll es sein. Wir lachen über den Staat, über die große Hilflosigkeit eines riesigen Verwaltungsapparates, der eigentlich gar keine Bevölkerung braucht. Und schon mal gar keine, die nicht allein klarkommt. Das Gleichnis Kaspar Hauser, das sich auf eine von Geheimnissen umwitterte Geschichte von 1828 bezieht, wo in Nürnberg ein verwahrloster, etwa 16-Jähriger auftauchte, der nicht sprechen konnte, weil er kontaktlos in einer Zelle aufgewachsen war, deutet in Felicia Zellers Stück nicht nur auf verwahrloste Kinder hin. Es ist längst Gleichnis für die auf eine andere Art verwahrlosten Jugendamtspersonen geworden.

»Kaspar Häuser Meer« ist ein Stück, nach dem junge Theatermacher gierig greifen. Sie scheuen keineswegs die unbequemen Stoffe. Uraufgeführt wurde das Theaterstück der 1970 geborenen Autorin Anfang 2008 in Freiburg. Danach wurde es in München neu auf die Bühne gebracht.

Die aktuelle Berliner Inszenierung ist ein Erlebnis. Alles passt. Und sie passt hierher.

„Kaspar Häuser Meer“ spielt im Jugendamt

Berliner Morgenpost

Drei punktgenau angestrahlte Minitopfpflanzen verbreiten auf groteske Weise genau jene pseudobehagliche Ämter-Atmosphäre, die bei Besuchern sofort ein inneres Unbehagen auslöst.

Dazu outen sich drei Damen als typisch deutsche Beamtinnen: Die eine will die Dinge am liebsten vertagen, die andere regt sich über die unfairen Berichte in den Medien auf und liebt Jahresstatistiken, während die dritte ihre Pappenheimer ganz genau kennt. Herrlich schräg überzeichnet beginnen Felicia Zellers Alltagsszenen mit dem trefflichen Titel „Kaspar Häuser Meer“ in einem Jugendamt. Den Blick stets auf die harte Realität und die bitteren Schicksale hinter den Aktendeckeln gerichtet, karikiert die Dramatikerin dabei Klischees und analysiert so gewitzt wie böse arg strapazierte Sozialarbeiter-Seelen.

Regisseur Stephan Thiel hat die Studie spannend und unterhaltsam inszeniert und trägt damit mehr zum Verständnis oftmals geschmähter Sozialarbeit bei als viele Dokumentationen. Herabhängende Fäden wie Aktenberge schaffen die Illusion einer hermetischen Abgeschiedenheit. Es ist das Büro von Barbara (Tilla Kratochwil), Anika (Nadja Petri) und Silvia (Gabriele Völsch), die hier trotz aller Komik Tragödien verwalten. Komplett überlastet, schleichen sich immer wieder öffentlich angeprangerte Fehler ein, während das Privatleben unter Aktenbergen erstickt. Kaum auszuhalten, wäre es nicht so lustig gespielt.

GROTESKE – KASPAR HÄUSER MEER

ZITTY

Kaputte Familien, verwahrloste Kinder, vermüllte Wohnungen, Alkoholmißbrauch – in der Innenwelt unserer Sozialbehörden hat Autorin Felicia Zeller recherchiert, weil sie wissen wollte, wie es so in der Hartz-IV-Gesellschaft aussieht. Herausgekommen ist kein Dokumentardrama der harten Fakten und unschönen Befunde, dafür eine sehenswerte Theatergroteske. Das ungemein komische Stück, das am 26. Februar auch am Maxim-Gorki-Theater Premiere feiert, stellt drei Mitarbeiterinnen eines Jugendamtes in den Mittelpunkt. Also die, die eigentlich das Elend bekämpfen sollen, aber selbst völlig überfordert sind und damit Abbild einer Verfallsgesellschaft, in der auch die vermeintlichen Helfer Opfer werden. Die dynamische Spielfreude der Darstellerinnen reißt das Publikum mit. Nur noch Typen, austauschbare Größen verkörpern sie, lächerlich, hysterisch, Gefangene von Situationen, neurotisch, frustriert. Alltagsmomente werden in schnell gespielten Sequenzen an- und ineinander montiert. Satzfetzen folgt auf Satzfetzen, Dialoge, so die konsequente Regie, gibt es in dieser geschwätzigen und doch kommunikationslosen Welt nicht mehr. Doch greift diese Form des bilderverliebten Theaters, bei dem viel gelacht wird, um eine härter werdende Realität abzubilden? Diese Frage bleibt.