WELTUNTERGÄNGE

von Marc Becker

mit: NADJA PETRI und MEHMET YILMAZ

Bühne: HALINA KRATOCHWIL

Premiere am 23. FEBRUAR 2006 im Theater unterm Dach Berlin, Koproduktion von Staatsschauspiel Stuttgart und Theater Unterm Dach Berlin

Neues Deutschland

Lebenslang am Leben unbeteiligt

Zwei Engel in weißem Bademantel mit aufgenähten Flügeln flankieren ein Zimmer, dessen Boden Tüten mit Erdnussflips pflastern. Zu beiden Seiten liegen Kugelhälften aus Plastik, als seien jene Seifenblasen und Rauchringe erstarrt, die die Engel in die Welt blasen. Mit diesem irritierenden Trugbild aus Harmonie und Chaos startet Stephan Thiels Inszenierung von Marc Beckers 75-Minuten-Stück »Weltuntergänge« im Theater unterm Dach. Kugelhälften bleiben symbolhafte Requisiten: Die Engel erbrechen sie, lesen aus ihnen wie aus einem Kristall, nutzen sie als Telefon und Monitor. Die Menschen allerdings, um die es jeweils geht, können zur Kugelform als Gleichnis einer stabilen Beziehung nicht finden. Zwei Paare führen die Engel vor. Schlüpfen in deren Rollen, steigen bisweilen kommentierend aus. Nadja landet nach einem Horrorfilm in der Kneipe, wo Andy rumhängt. Zu sagen haben sie sich erst etwas via Mail: Sie lädt ihn ein. Zwei Weltgeschädigte prallen da aufeinander. Nadja treibt Angst vor verseuchter Luft, Briefbomben. Terroranschlägen in die Isolation ihres Zimmers. Bist du bewaffnet, argwöhnt sie den Fremden an. Keine Panik, rät der naiv ungelenk und trifft damit den Punkt. In einem Gespräch ohne wirklichen Dialog schleudern sie sich Floskeln und Phrasen einer gleichgeschalteten Mediengesellschaft entgegen, kläffen wie Straßenköter, versteigen sich in Tötungsexperimente und Todesphantasien. entlarven Schüchternheit. Frust, Gefühllosigkeit. Liebe entartet zur mechanischen Umarmung. Sex wünscht sie nur mit Atemmaske. Unverrichteterdinge trennen sich zwei sozial Gestrandete.
In der anderen Episode skizziert Becker ein übersättigtes Paar der Mittelschicht. Zwei Wochen waren Johann und Johanna auf ihrem rosasamtenen Katafalk glücklich. Platitüden kennzeichnen nun ihren Alltag, sein Überdruss entlädt sich in »Tschüss mit 35«, einer Anleitung zum Suizid. Yoga-Johann joggt, kauft Bio, pulst mit den Brustmuskeln, hält Angst für das Benzin im Motor des Menschen. Johanna verachtet Alte, reagiert exaltiert auf seine Trauringe. Schließlich schenkt sie ihm einen gelben Koffer. Beider wirre Ansichten speisen sich aus verbalen Versatzstücken und markigen Schlagwörtern, die selten nur. und dann anrührend. Gefühle gucken lassen. Im Gestrüpp vermeintlicher Lebensvorgaben verfangen sich zwei Verunsicherte, sprengen mit dem Koffer sich und die Stadt in die Luft. Süffisant lächelnd erbrechen am Ende die Engel neue Blasen.
Thiel inszeniert in Halina Kratochwils dicht gefügtem Raum bilderreich, prall, provokant, bricht Tragik durch reichlich grotesken Humor, der auch Hoffnung macht. Nadja Petri und Mehmet Yilmaz als wunderbar wandlungsfähige Darsteller der feinen Schwingungen und sprachlichen Nuancen spielen mit Bravour, Tempo, Witz, halten Abstand von ihren Figuren, würzen einen unterhaltsam deftigen Theaterabend mit brillanter Hintergründigkeit.

Stuttgarter Zeitung

Hohn der Angst – Marc Beckers „Weltuntergänge“ im Depot

Früher hatten sie alle Angst, jetzt stehen sie da drüber. Zu Beginn von Marc Beckers Stück „Weltuntergänge“ huschen vergnügte Wesen in engelweißen Bademänteln durch den Hinterbühnenhimmel. Was war das Leben dagegen für eine Hölle, oder wie Johanna sagen würde: für eine „Drecksau“. Da ist Nadja, die zu viele Filme gesehen hat, in denen Menschen in Senfsoße gar gekocht werden. Bilder des Grauens haben sich in ihr so angehäuft wie leere Erdnußflipstüten in dem vermüllten Wohnbunker, den sie wegen der überall lauernden Universalgefahr nicht mehr verläßt. Und nun kommt dieser tumbe Triebtor Andy, um mit Worthülsen herumzuballern.
Aber auf der anderen Seite sieht es kaum besser aus. Horror und Terror Vacui trennen nur einen Schritt. Auf plüschrotem Samt lassen die schönen Übermenschen von heute ihre Brüste hüpfen. Johanna und Johann, zwei Wohlstandsnarzißten, die sich in ihren glänzenden Leibern selbst bespiegeln. Für den Kult der Oberfläche sind sie bereit, jedes Opfer zu bringen: „Tschüß mit 35“ ist der Titel des suizidalen Lebensprojektes, das sie unsterblich machen soll. Die Ängste, die in einer von Entfremdung, Körperkult und Medienwahnsinn beherrschten Gesellschaft gedeihen, werden in Beckers grellbuntem Doppelportrait mutwillig kultiviert.
Doch wer Schlagworte sät, muß damit rechnen, Platitüden zu ernten. Was für ein Glück aber, daß der Regisseur Stephan Thiel nicht allzusehr auf zeitdiagnostischen Tiefsinn drängt. Die Hohlheit mancher Wortblasen nutzt er, um sie lustig zwischen Himmel und Erde zirkulieren zu lassen. So muß man sich an grobschlächtigen Thesenbrocken nicht stoßen, sondern kann sich an der Leichtfüßigkeit erfreuen, mit der die Schauspieler Nadja Petri und Mehmet Yilmaz diese durchgeknallten Paargeschichten in den Himmel retten. Hätte man doch mit jeder Angst ein so leichtes Spiel!

ZITTY

Katastrophentheater – WELTUNTERGÄNGE

Was ist eine Katastrophe? Wohl unsere ganze im Untergang befindliche Welt. Oder: keine Erektion zu kriegen. Und die Vogelgrippe. Auch die Atombombe. Und natürlich der Terrorismus. Oder, wie es im Stück heißt, die Gewissheit und die ständige Angst vor all diesen Dingen. Große und kleine Katastrophen sind das Thema von Marc Beckers Weltuntergänge. In der Inszenierung wird aufgezeigt, wie eine katastrophische Welt die intime Privatheit bestimmt und auch behindert.
Die brillanten Darsteller Nadja Petri und Mehmet Yilmaz zeigen zwei Paare, die unterschiedliche Konsequenzen aus der Lage ziehen. Sind Andy und Nadja, die nicht zusammenfinden, von Angst, Depression und Erfolglosigkeit geprägt, sc bilden die lustbestimmten Johanna und Johann ihr krasses Gegenteil. Aus radikaler Weltverachtung bereiten sie ihren letzten tödlichen Auftritt vor: ein furchtbares Attentat, ohne politische Motivation. Die beiden Schauspieler, entspannt und zugleich konzentriert, treiben die Szene, wenn sie in weißen Bademänteln und mit Engelsflügeln rauchend auftreten, in eine absurde Dimension. Die Lebensentwürfe zeigen Extremlagen und das Scheitern in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, die realen Bedrohungen ausgesetzt ist. Gerade in der Leichtigkeit und Spielfreude dieser Regie, die den moralischen Zeigefinger beseitigt, verbirgt sich die überzeugende Kraft des Abends.