von Nicky Silver
mit Iris Albrecht, Timo Hastenpflug, Ralph Martin, Marie Ulbricht
Bühne und Kostüme: Katja Turtl
Premiere am 20. MÄRZ 2015 im Theater Magdeburg
Fotos: Andreas Lander
Zerrüttete Familien als Spiegelbild
Das Theaterstück „Fette Männer in Rock“ des Amerikaners Nicky Silver hat es in sich, verlangt den Schauspielern wie den Zuschauern einiges ab. Aber gerade deshalb wollte der Beifall im Magdeburger Schauspielhaus kein Ende finden.
Formal ist das Theaterstück eine Komödie. Die Dialoge sind geschliffen, meist sehr pointiert, und es gibt jede Menge Lacher. Und trotzdem: Oft bleibt dieses Lachen im Halse stecken, denn dahinter verbergen sich fast immer Abgründe des Menschseins.
Was macht den Menschen zum Menschen? Und wie erschreckend dünn ist das Häutchen aus Tausenden Jahren Zivilisation und Kultur, das uns scheinbar einzigartig macht?
Die Inszenierung von Stephan Thiel schwingt da im wahrsten Sinne des Wortes schonungslos brutal das Messer der Erkenntnis, vornehmlich in den Händen von Bishop Hogan, großartig gespielt von Timo Hastenpflug.
Auf das Töten verstehen sich die drei anderen Akteure Iris Albrecht als Phyllis Hogan, Marie Ulbricht als Pam/Popo Martin und Ralph Martin als Howard Hogan und Psychiater Dr. Nestor, mindestens genausogut, wenn auch subtiler, bei der Zerstörung jeder menschlichen Beziehung untereinander.
Unter den vier Darstellern jemanden hervorzuheben, scheint angesichts so überwältigender schauspielerischer und körperlicher Präsenz fast unmöglich. Und dennoch traf Iris Albrecht mit ihrer ungeheuren Vielseitigkeit und der überzeugenden naiv-grausamen Selbstverständlichkeit ihrer Worte wohl am tiefsten.
Sie findet sich nach einem Flugzeugabsturz mit ihrem Sohn auf einer einsamen Insel. Nichts als Sand, Wasser, eine Palme (Sonderlob für die Ausstattung von Katja Turtl) und kaum Aussicht auf Rettung.
Die geborgenen Schuhe sind ihr wichtiger als ihr Sohn. Das war schon immer so, selbst als Bishop noch ein Baby war. Der wiederum hat am dauerhaften Liebesentzug seiner Eltern Schaden genommen.
Sein Vater Howard Hogan, ein Filmemacher, der nicht mit im Flugzeug saß, hatte stets Geliebte und heuchelte lediglich Interesse an der Familie. So wuchs Bishop auf, kaum in der Lage, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Doch das soll sich im Laufe der einsamen fünf Jahre auf der Insel gründlich ändern.
Nicky Silver schrieb das Stück 1988. Er benutzt, wie auch in anderen Werken, zerrüttete Familien als Spiegelbild einer kranken Gesellschaft.
Meist nach außen perfekt verborgen, zeigt sich in der Familie der Mensch oft als das, was er wirklich ist. Versetzt man ihn nun noch in eine außergewöhnliche, eine ausweglose Situation, dann fällt auch die letzte Hemmschwelle, wird jedes Tabu gebrochen. Dann zeigt sich der Mensch als ganz gewöhnliches Tier, nur ohne „kulturelles Gepäck“.
Solche Tabubrüche, gespickt mit sehr viel schwarzem Humor, sind in „Fette Männer im Rock“ wie an einer Perlenschnur aufgereiht. Da geht es um Kannibalismus, wenn aus Hunger Passagiere verspeist werden, die den Absturz nicht überlebten.
Oder Inzest, wenn der wohlstandsverwahrloste und emotional vernachlässigte Bishop seine Mutter vergewaltigt und auch nach der Rückkehr von der Insel keinen Wert im Leben für sich und andere erkennen kann.
Diese Szenen, oft an der Grenze des Erträglichen, so darzustellen, daß die darin tief verborgene Botschaft nicht verlorengeht, ohne auch nur einmal ins Triviale abzugleiten, und dabei noch mit bitterem Humor zu unterhalten, das ist eine ganz große Leistung der Schauspieler und der gesamten Inszenierung.
Allen, auch den Zuschauern, wird dabei eine Menge abverlangt. Äußerst geschickt wechselt das Geschehen auf der Insel-bühne übergangslos in Reminiszenzen, spürbar nur durch Lichtwechsel oder kommentierende Bemerkungen aus dem Hintergrund, ändert sich der Spielort nur durch eine aufgeblasene Couch, laufen Spielebenen ineinander über. Vom Zuschauer verlangt das Konzentration und zwingt zur Selbstreflektion. Mitunter anstrengend, packt es aber emotional, wenn man sich darauf einläßt.
Tabus, wie Inzest oder Kannibalismus, bricht man nicht, ohne Kontroversen auszulösen.
Das dürfte bei diesem Stück nicht anders sein. Aber beides ist bis in die jüngste Menschheitsgeschichte hinein Realität. „Fette Männer im Rock“ provoziert, indem es manchmal weit unterhalb der emotionalen Gürtellinie zuschlägt.
Aber es zwingt damit zu einem tiefen Blick in das eigene Menschsein.
Und das wiederum ist höchste Anerkennung wert.
Rolf-Dietmar Schmidt, Magdeburger Volksstimme, 23. März 2015